Das Ebenbild

Gretchen musterte ihren Großvater unglücklich. „Bitte glaub mir doch, diese Frau Kronmüller hat etwas gegen mich!“ ein flehen lag in ihrer Stimme, eine verzweifelte Tat gegen ihr Schicksal.

Der Großvater musterte das Mädchen nur Finster, beugte sich zu ihr. Mit seiner langen, knorrigen Hand deutet er Anklagend auf den Schrieb in seiner Hand. „Willst du mich für Dumm verkaufen?“ Gretchen antwortete nichts, sie wusste es hatte eh keinen Zweck. Der Atem ihres Großvaters roch nach Alkohol, seine Augen waren gerötet, wie schon oft in den letzten Jahren. Die Stimme des Mannes war kalt und schneidend. „Gretchen gibt sich zuwenig Mühe und ist nicht aufmerksam genug“ wiederholt er den Satz der auf ihren Zwischenzeugnis stand. Gretchen schluckte, ihr war zum heulen zumute. Nicht das weinen etwas gebracht hätte. Seid fast zwei Jahren waren Gretchens Eltern tot. Noch immer träumte Gretchen von diesem schrecklichen Tag. Die schnelle Kurve auf der Landstraße, der LKW der plötzlich auftauchte, die schreie ihrer Mutter, das brüllen ihres Vaters... wie durch ein Wunder war sie damals aus dem Auto geschleudert worden, und mit wenigen Prellungen davongekommen.

Doch Gretchens Eltern konnten nicht mehr gerettet werden. Dadurch musste sie ihr Großvater, der Vater ihres Vaters bei sich aufnehmen. Er war ihr einzig noch lebender Verwandter. Und er hasste sie. Das wusste Gretchen. Sie wusste das er es ihrem Vater übel nahm gestorben zu sein, das erzählte er häufig im Vollrausch. Er erklärte auch immer wieder gerne das sie eine Last war, das er regelrecht gezwungen wurde das Kind seines Sohnes, den er seid Jahrzehnten nicht mehr gesprochen geschweige den gesehen hatte, aufzunehmen.

Und nun dieses Zwischenzeugnis. Als Gretchen es bekam wusste sie sofort was ihr blühen würde. Doch sie konnte nichts tun, der Großvater überwachte ihre Schulischen Aktivitäten peinlichst genau.

„Zu Unaufmerksam? Wie KANNST du es wagen mit schlechten Ausflüchten zu kommen?!“ Das anklagende Brüllen schreckte Gretchen aus ihrer Starre. Nervös rang sie ihre Finger ineinander, wie immer wenn sie Angst bekam, versuchte es noch mal im guten...doch da traf sie schon die harte Ohrfeige. Ihr Großvater war unausstehlich, doch wenn er getrunken hatte war er noch schlimmer. Verzweifelt bemerkte Gretchen wie ihr die Tränen über die Wangen kullerten, ihre Wange brannte, und sie hasste und schämte sich gleichzeitig für diese Situation.

„Großvater bitte...“

„Geh auf dein Zimmer“ die Stimme des Alten klang einfach nur angewidert, träge und feindselig. „Geh mir aus den Augen, dein Abendessen kannst du dir sparen, lerne lieber mehr und komm mir nie wieder dumm!“ Die Warnung war unverhohlen drohend. Zitternd und schniefend erhob sich das Mädchen und hastete in ihre kleines Zimmer. Es bestand aus nicht viel mehr als einem Bett und einem Schreibtisch mit einigen wenigen Büchern. Sie erinnerte sich wehmütig an den Fernseher und ihren Mp3 Player den sie damals vor dem Unfall zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Ihr Großvater hatte das alles mit den restlichen ihrer Sachen verkauft, um die Beerdigung zu zahlen. „Ich gebe doch nicht mein eigenes Geld her für die Bestattung, und in deinem Alter brauchst du solchen Firlefanz nicht, lerne lieber für die Schule!“ war damals die Erklärung ihres Großvaters gewesen.

Wie so oft in den letzten Monate krümmte sich Gretchen auf dem Bett zusammen und fragte sich wieso ihr Leben so war wie es ist. War es ihre Schuld? Oder gar die ihrer Eltern? Sie wusste es nicht, sie wusste nur das sie einige Jahre durchhalten musste, bis sie endlich Volljährig war und allem entfliehen konnte...

Wie so oft in den letzten Monaten schlief sie gekrümmt im Bett liegend ein.

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"I asked if your wife fully understood what you would be taking on here. And there's your son, of course."

Frau Kronmüller zitierte langsam den Satz während sie durch die Tischreihen schritt. Die Brille knapp auf der Nasenspitze, der Mund ein dünner Strich, die grauschwarzen Locken umrahmten das kleine, faltige Gesicht.

„Nun? Wer will es versuchen?“

Sie spürte zufrieden wie sich alle Schüler bemühten möglichst unauffällig zu werden. Die Lehrerin wusste das dieser Satz eigentlich zu schwer war ohne die vorherige Erklärung. Wie beiläufig trat sie vor die Klasse und sah sich demonstrativ um. Natürlich wusste sie wen sie nehmen würde, doch natürlich musste sie den Anschein wahren. Niemand sollte ihr vorwerfen das sie unfair wäre.

„Gretchen?“

Innerlich schmunzelnd sah Angelika Kronmüller zu wie das Mädchen sich langsam, fast schon gekrümmt erhob. Nervös befeuchtete Gretchen ihre Lippen, nahm ihr Buch in die Hand, bemühte sich um die Übersetzung. Natürlich konnte ihr das nicht gelingen, die Lehrerin wusste das. Sie gab den Mitschülern einige Sekunden um zu tuscheln bevor sie streng um Ruhe forderte.

Das Mädchen begann verzweifelt zu stammeln, sie stockte.

„Was ist Gretchen?! Wir warten.“

„Ich...ich weiß nicht weiter Frau Kron-“

„MEINE GÜTE GRETCHEN! Wie oft habe ich dir das erklärt? Entweder du begreifst ein wenig schneller oder du solltest es einfach gleich lassen unsere Zeit zu vergeuden!“

Frau Kronmüller ignorierte das Gekicher und hämische Flüstern der anderen Schüler. Natürlich verabscheute sie ihren Beruf. Seid dem Ihr Sohn im Alter von drei an Riesenwuchs gestorben war konnte sie keine positiven Gefühle mehr empfinden, vor allem nicht für Kinder. Sie konnte es nicht sagen würde man sie darum bitten, doch besonders Gretchen hatte es ihr angetan. Sie durfte das natürlich nie zeigen. Doch die Art dieses Kindes, die ängstliche Haltung, die nervöse Art...das alles widerte sie an, und auch wenn sie sich niemals etwas anmerken würde: Sie mochte es dieses Mädchen zu demütigen wo sie nur konnte.

Während sich Gretchen schweigend und betroffen setzte, eine hilflose Entschuldigung murmelnd, begann Frau Kronmüller den Satz noch mal zu erläutern...

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Die Ohrfeige war zum Glück nicht mehr zu sehen. Nach dem Ende der Stunde war Gretchen froh gewesen endlich auf die Toilette gehen zu können, den am Morgen hatte sie keine Zeit mehr gehabt sich zu mustern. Der Anblick in ihrem Spiegel machte ihr dennoch wenig mut. Sie war einfach unscheinbar. Durchschnittliches Gesicht, durchschnittliche Nase, X-beliebige Augen. Sie seufzte, machte sich Mut. Nun hätten sie nur noch Deutsch und Biologie auf dem Stundenplan und das waren Fächer die sie konnte. Auch wenn sie Angst vor den Kommentaren ihrer Mitschüler hatte, doch die zu ignorieren war sie gewohnt.

Sie wurde zwar nicht offen Angegriffen aber die unterschwellige Ausgrenzung lag immer in der Luft, besonders in den Stunden bei Frau Kronmüller. Egal, nun würde –

„Gretchen, ich suche dich schon seid Stunden“

Oh nein.

Sie dreht sich langsam zur Seite, ihr herz klopfte stärker. Da stand Renate.

„H-hallo...“

Das große Mädchen mustert Gretchen grinsend, lauernd. Zwei andere waren bei ihr, wie so oft.

„Hast du das Geld?“

Gretchen bemüht sich um Fassung. Als wäre ihr Tag nicht schon schrecklich genug gewesen musste sie ausgerechnet dem gemeinsten Mädchen der Schule über den Weg laufen. Renate war bei fast allen Mädchen gefürchtet, selbst bei einigen Jungs. Das große, stämmige Mädchen terrorisierte die gesamte Klassenstufe, und scheute keine Sekunde vor Gewalt zurück. So gut wie jede wurde von ihr erpresst, natürlich auch Gretchen.

„Weißt du Renate...“

Gretchen hasste sich dafür das ihre Stimme so klein und piepsig wurde, sie kaum richtig sprechen konnte. Natürlich hatte sie kein Geld. Ihr Großvater würde ihr niemals Taschengeld geben, und auch selbst wenn reichte das Renate nie. Renate bekam nie genug.


„Du hast es nicht?“

Gretchen keucht erschrocken auf als die große Hand sie am Kragen zog, zu sich zerrte. Renate mustert sie boshaft, die anderen Zwei feuern sie schon an zuzuschlagen. „Sagte ich dir nicht das ich heute zwanzig Euro will? Bist du irgendwie blöde Gretchen?“

„Lass mich los!“ ruft das verängstigte Mädchen panisch, will nach der Schulschlägerin treten dich da bekommt sie schon einen grässlichen Schlag in den Magen, der ihr die Luft raubt. Sie merkt wie sie auf den Toilettenboden landet, zwei Tritte in die Seite lassen sie Aufheulen, sie versucht sich zusammenzurollen. Sie bekommt kaum mit wie sich die anderen zwei Komplizinnen sich ihre Schultasche schnappen und sie gehässig über den boden auskippen. Schulhefte und Bücher fallen zu boden, der Rest wird durchsucht.

„Nichts da, nicht mal ein Lipgloss!“

Gretchen schreit auf als Renate sie an den Haaren hoch zerrt, zwei harte Schläge ins Gesicht lassen sie endgültig aufheulen. „Verarsch mich nicht Schlampe! Wenn du morgen keine Fünfzig Euro bringst mach ich dich kalt!“

Panisch weiten sich Gretchens Augen als sie das Klappmesser vor ihrem Gesicht sieht, Renate lässt es warnend vor ihrer Nase baumeln. Doch zum Glück ertönt die Schulglocke, und Renate lässt von ihr ab.

„Morgen Grechten-Flittchen, oder du bist dran!“

Doch Gretchen kann gar nicht mehr antworten, weint atemlos am dreckigen Toilettenboden. Sie schließt die Augen und wünscht sich nur woanders zu sein. Sie hört irgendwann die Tür aufklappen. Sie war allein. Verheult betastet sie vorsichtig ihren Bauch, die Tritte hatten unglaublich weh getan, doch es würden sicher nur blaue Flecke zurückbleiben. Nach fünf Minuten schafft sie es ihre Sachen zusammenzupacken, die Bücher waren verdreckt und ihre Hefte zerknittert aber was sollte sie tun? Neue würde sie nicht bekommen.

Sie krampft die Finger in ihren Rucksack. Sie konnte nicht mehr. Sie konnte jetzt nicht in ihre Klasse, sicher hatten manche Mitschüler das mitbekommen, sie musste die Stunde schwätzen, egal was es für Folgen haben würde.

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Die Tür zum Dach war seid sicher zwei Monaten kaputt. Durch Zufall hatten das einige Schüler mitbekommen und ein paar Tage später wusste es die halbe Schule. Seid dem war das Dach ein guter Ort um zwischen den Stunden zeit zu vertrödeln, zum heimlichen Rauchen oder um rumzumachen.

Gretchen kam gern hierher. Jetzt während der Stunden war hier keine Menschenseele, und sie konnte alleine nachdenken. Sie würde die fünfzig Euro stehlen müssen, am besten aus Großvaters Börse. Sie musste nur warten bis er mal wieder betrunken einschläft, und mit etwas glück würde dann Renate zufrieden sein.

Nein.

Renate würde nie zufrieden sein. Sie würde einen anderen vorwand finden Gretchen zu quälen. Gretchen zittert. Ihr Leben war die Hölle, und sie sah keine Sicht auf Besserung. Nachdenklich, und sehr ernst sieht sie am Dachfrist herunter. Der Boden zum Hinterhof war sicher sieben Meter unter ihr, und nur ein Schritt über die Begrenzung würde viele ihrer Probleme einfach beenden...

„Hey“

Hastig wirbelte Gretchen herum, hob instinktiv die Hände vor die Brust. Ein junge stand hinter ihr, und abermals machte ihr Herz heute einen Sprung, wenn auch aus einem anderen Grund. Es war Benjamin.

„Hey...du hast mich erschreckt“ Gretchen bemühte sich gelassen zu klingen, und der Junge nickte. Benjamin war einer der coolsten Jungs ihre Stufe, der einfach immer gelassen wirkte. Er war der mutigste und er gab den Lehrern immer freche antworten. Gretchen beneidete ihn wegen diesem Selbstvertrauen, und insgeheim war sie schon lange in Benjamin verliebt.

„Hmhm, schwänzste auch?“

„Ähm ja so sieht es wohl aus...ich hab nur kurz Ruhe gewollt“

„Jo, hier isses nice“

Gretchen wollte eben noch etwas sagen da ging die Tür zum Dach wieder auf. Zwei Jungs und ein Mädchen kamen auf sie zu, einer hatte ein Sixpack Dosenbier in der Hand. „He Benny fang“ Der eine Junge warf ihm eine Dose rüber, und Gretchen bemerkte mit einem Stich wie sich Benjamin langsam abwendete, ihr noch höflich zunickte aber dann zu den anderen ging.

Er wollte nicht mit ihr gesehen werden, wollte nicht das andere denken er würde sich mit ihr abgeben. Bemüht sich nichts anmerken zu lassen ging Gretchen unauffällig zur Tür, und kämpfte mit sich das Getuschel der Gruppe zu ignorieren. Ihr wurde fast übel als sie die Treppe in den Schulflur zurückrannte, durch die Tür, dann über den Hof und weinend auf die Straße weg von diesem Ort.

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Sie wollte noch nicht nach Hause. Zwar würde sie nun vier Stunden Unentschuldigt fehlen aber das war ihr im Moment egal. Ziellos wanderte sie durch die Einkaufspassagen der Innenstadt, am Mittag war noch nicht viel los, einige wenige Leute um sie. Neidisch beobachtete sie die Paare die an ihr vorbeigingen, stellte sich einen Moment vor wie sie mit Benjamin.

Nein.

Das war Unsinn. Nie würde Benjamin sich mit ihr abgeben. Er kannte sicher nicht mal ihren Namen, und er hatte sicher keinerlei Interesse an ihr.
In ihren Gedanken bemerkte sie gar nicht wie sie plötzlich an einem Schaufenster vorbeikam. Es war eine art Trödelladen, und dort lag...ihr Mp3 Player! Ungläubig musterte sie das Gerät im Schaufenster, das war hundertprozentig ihr Gerät das ihr Großvater verkauft hatte! Sie sah sogar noch den Hello Kitty Aufkleber an der Seite, das war exakt das Gerät das sie besessen hatte!

Ohne zu überlegen ging sie hastig in das Geschäft, schritt zur Rückseite und nahm ihren Mp3 Player staunend in die Hand.

„Hallo, kann ich dir helfen?“

Gretchen hätte beinahe aufgeschrieen, drehte sich hastig um. Um ein Haar wäre ihr das Gerät aus der Hand gefallen. Vor ihr stand eine rundliche Frau, die scheinbar die Ladenbesitzerin war.

„Ähm ja nein ähm ich meine ich wundere mich wo sie diesen Player her hatten, ich wollte ihn wirklich nicht stehlen oder so...“

Gretchen biss sich auf die Zunge, sie begann schon wieder zu stammeln! Irgendwie und irgendwann war sie zu einem Mädchen geworden das sich für alles und jeden entschuldigte, egal ob sie Schuld war oder nicht. Doch die Frau lächelte nur schmunzelnd.

„Das ist ein gebrauchtes Gerät, also nicht allzu teuer“

„Ja ähm nein Verzeihung, ich wollte...nur mal schauen“

Mit mühe legte sie ihren alten MP3 Player wieder in das Schaufenster zurück, bemerkte peinlich berührt wie sie wieder anfing zu weinen, verdammt warum konnte sie den nicht aufhören?

„Ist alles in Ordnung Mädchen?“ Die Frau schaute ehrlich besorgt drein. Gretchen fasste sich, wischte sich schnell die Augen und lächelte breit. „Sicher, hatte nur etwas im Auge“ dann sah sie sich um. Der Laden war von oben bis unten vollgestellt mit Möbeln, Figuren, Vasen, alten Videospielen und sonstigen Artikeln. Alles war aus zweiter, wenn nicht sogar dritter Hand, doch alles sah interessant aus.

„Sie haben einige schöne Sachen“ bemerkte Gretchen höflich. Die rundliche Frau lächelte. „Oh das meiste ist Krimskrams, doch manches ist wirklich Antik und Wertvoll...doch leider kann so gut wie keiner das eine vom anderen unterscheiden...“ die Frau zwinkerte ihr zu. „Willst du es mal versuchen?“

Gretchen war eigentlich nicht danach Krempel zu begutachten doch sie wollte die Geschäftsinhaberin nicht verärgern, sie war die einzige die heute nett zu ihr gewesen war. Also nickte sie scheu, ging langsam im laden auf und ab. Ihr blick viel auf eine kleine Holzfigur.

„Die da?“

Die Frau lächelte breiter „Ja gut! Das ist eine kleine Götze aus Simbabwe, sie zeigt einen Fruchtbarkeitsgott, ist schätzungsweise 1.200 Euro wert“

Gretchen schluckte fassungslos, soviel Geld konnte sie sich kaum vorstellen. Nervös sah sie sich um, waren den hier keine Alarmanlagen? Oder vielleicht nahm sie die Frau auch auf den arm, dennoch bat sie Gretchen um einen zweiten Versuch. Nachdenklich schritt sie die Regale ab wo der Schmuck lag. Vieles erkante man sofort. Farbigen Tinnef, angemalte ketten aber da...

Fast schon ängstlich zeigte sie auf eine dunkelgrüne Brosche.

„Das?“

„Du bist gut Mädchen, diese Brosche war angeblich aus einem alten französischen Adelshaus, und der Stein in der Fassung ist sicher 900 Euro wert.“

„Warum haben sie sie neben diesen ganzen...ähm“

„Krempel hingelegt?“ Die Frau lacht leicht, zwinkert ihr zu. „Es ist interessant das man manchmal den Wert einer Sache nicht erkennt, und manchen Krempel für einen Schatz hält...das mag ich bei meinen Kunden. Willst du dein Glück ein drittes mal auf die Probe stellen?“

Nun war Gretchen selbstbewusster, sie wollte selber wissen ob sie das schaffte. Langsam, lauernd schritt sie durch die Regale, und dann...sah sie ihn.

„Der da...“

Ohne zu zögern deutete sie auf eine alte Kommode, ein silbernumrandeter Spiegel zierte das Stück. Plötzlich änderte sich der Tonfall der Frau, sie schien zu zögern.

„Ja, du hast recht.“

Fasziniert musterte Gretchen das Stück. Die Spiegelplatte war ungemein glatt, und mit der silbernen Umrandung verlieh es dem ganzen etwas gespenstisch Schönes. Das war kein gewöhnlicher Tinnef, das spürte sie einfach.

„Er ist sehr wertvoll oder?“

Die eben noch fröhliche Frau druckste unsicher herum. „Nunja...“ Gretchen wandte sich überrascht um. „Nein?“ Die Frau nickte ernst. „Doch du hast vollkommen recht. Er ist aus Belgien, von einem recht bekannten Künstler...“

Gretchen musste sich wieder dem Spiegel zuwenden, selbst sie selbst fand sich im Spiegel eine spur schöner...eine spur interessanter. Der Spiegel hatte etwas an sich das...

„Und wie viel kostet er?“

„Er ist nicht zu verkaufen“

Überrascht hob das Mädchen die Augenbrauen. „Warum nicht?“ Die Frau musterte das Kind eindringlich. „Der Spiegel...hat kein gutes Karma...der Künstler damals hatte behauptet das dieser Spiegel ein Leben verändern kann“

Gretchen hielt instinktiv die Luft an. „Ein Leben verändern?“

Die Frau bekam langsam Sorgenfalten auf der Stirn. „So sagte man, aber...“

Plötzlich klingelte es nebenan. Die Frau blickte überrascht auf. „Oh das ist sicher meine Tochter, ich muss kurz ran, wartest du kurz?“ Gretchen nickte nur stumm, mustert den Spiegel nun hypnotisch. Während die Ladenbesitzerin hinten telefonierte blickte Gretchen intensiv in ihr Spiegelbild, das in diesem Spiegel ernster und schöner wirkte als sonst wo.

Ohne zu wissen warum berührte sie die kalte, glatte Spiegelfläche. Sie schloss die Augen. All ihre Ängste, Sorgen, ihre Leiden...sie würde vieles geben um dieses Leben, ihr Leben irgendwie zu verändern.

Plötzlich durchzog sie ein eisiger Zug, und überrascht löste sie ihren Griff, musterte den Spiegel verwirrt. Nichts war passiert. Dennoch...irgendwie...sie konnte es nicht ausrücken.

„Ja Herzchen, ich rufe dich morgen zurück...ja gut wiederhören!“

Die Ladenbesitzerin legte auf und ging zurück in den Laden. Das Mädchen war nicht mehr da.

-


Wieder hatte sie ihr Großvater ohne ein Wort ins Bett geschickt, zumindest konnte sie sich eine Pizza in der Mikrowelle machen, während er wieder einen Schluck von seinem Bier nahm. Mit flatternden Bauch dachte Gretchen an Morgen, Renate würde die 50 Euro fordern. Sie musste morgen früh versuchen an die Börse des Großvaters zu kommen, irgendwie!

Sie dachte an den Laden und den Spiegel von heute Mittag. Sie hätte den Spiegel gerne gekauft, nur warum wollte die Frau das nicht? Er war sicher zu wertvoll, oder die Frau fand den Spiegel zu interessant? Sie schüttelte den Kopf, das war doch alles Unsinn. Dann dachte sie an Benjamin, und wie schnell er sich von ihr abgewandt hatte... er würde sie nie beachten, und sie würde niemals glücklich werden. Jetzt nicht mehr.

Wie so oft in den letzten zwei Jahren schlief sie unter Tränen ein...

„Wach auf“ bat eine Stimme. Gretchen öffnete irritiert die Augen, war das eine Frauenstimme? Bevor sie nachdenken konnte rappelte sie sich von ihrem Bett hoch

...und sah sich.

Nicht in einem Spiegel. Sondern direkt vor ihr. Eigentlich hätte sie schreien oder zumindest panisch aufschreien sollen, doch dazu hatte sie Seltsamerweise keinen Bedarf. Das war vielleicht ein besonders realer Traum. Vor Gretchen stand Gretchen.

„Du träumst nicht“ erklärte ihr Ebenbild gerade so als könnte sie ihre Gedanken lesen. Verschlafen rieb sich das Mädchen die Augen, nein das war nicht sie selbst. Dieses Mädchen hatte etwas in ihrem Blick das anders war. Selbstbewusstsein. Eine kühle, ernste Art. Gretchen fröstelte.

„Du bist aus dem Spiegel oder?“ irgendwie, so absurd der Gedanke war lag er ihr doch auf der Hand. Sie hatte sich gewünscht ihr Leben zu verändern, und nun war es in Erfüllung gegangen?

„Ich bin nur ein Schatten“ erklärte das zweite Gretchen ihr, musterte sie. „Ein Schatten kann aber nicht lange in dieser Welt verweilen, es darf keine zwei von uns in dieser Welt geben“

„....was willst du?“

„Dir helfen“

„Mir helfen? Aber...“

„Du weißt das du mich brauchst“

Plötzlich ein Gemurmel von draußen.

„Was ist den da los?!“ Gretchen, die echte keuchte erschrocken auf. Ihr Großvater war noch wach, und dem klang seiner Stimme nach Sturzbetrunken. In einem solchen zustand genügte die kleinste Provokation um ihn in Rage zu versetzen. „Er hat uns gehört, du musst dich Verstecken!“

Doch ihre Doppelgängerin blieb gelassen, blickte zur Tür. „Nein, ich werde mich um ihn kümmern, versteck du dich hinter dem Schreibtisch.“ Verunsichert blickte Gretchen ihr Ebenbild an, was hatte sie vor?

„Hast du etwa einen Jungen bei dir?“ Die Stimme des Großvaters war grollend, lallend und so drohend das Gretchen nicht anders konnte als sich beim Schreibtisch zusammenzukauern, so konnte sie die Tür im Auge behalten ohne gesehen zu werden.

Ohne die Spur von Angst und Scheu öffnete die Schatten-Gretchen die Tür. Der Großvater stand dich davor, wankend, aggressiv blickend. Sellbst aus der Entfernung konnte die echte Gretchen den Biergeruch wahrnehmen.

„Was war das für ein Lärm?!“ Der Großvater musterte ihre Doppelgängerin finster, er erkannte keinen Unterschied.

„Was sollte schon sein? Ich hab sicher im Schlaf geredet“ Gretchen staunte nicht schlecht wie unbeeindruckt ihr Zwilling antworten konnte, ja fast schon genervt, NIE hätte sie ihrem Großvater so antworten können. Selbst der Großvater war einen Augenblick überrascht, fing sich aber schnell wieder und schon kam die schallende Ohrfeige. „Komm mir ja nicht Frech! Wenn ich dir eine Frage stelle - “

„Macht dir das Spaß?“ Irritiert beobachtete das Mädchen wie die Schatten-Gretchen den Großvater unterbrach. Abermals war der Alte man überrumpelt, ansonsten wagte Gretchen nach einer Ohrfeige keinen Ton mehr hervorzubringen.

„Was? Was meinst du?!“

Doch Gretchens Zwilling blieb immer noch eisig. „Ob es dir spaß macht deine Enkelin zu verprügeln? Hilft dir das?“

Hinter dem Schreibtisch zog Gretchen überrasch die Luft ein, nun würde der Großvater explodieren! Tatsächlich schien es so, der alte Mann hob fassungslos die Faust, doch wieder blieb das Ebenbild ruhig.

„Ist das deine Antwort auf alles? Du hast deinen Sohn vor Jahrzehnten verloren“

Die Ohrfeige war hart, Gretchen hätte sich beinahe mit einem Aufschrei verraten, als sie sah wie der Kopf ihrer Doppelgängerin umherwankte, doch sie blieb stehen, machte weiter!

„Du hast deinen Sohn vor Ewigkeiten verloren weil du nicht mit dem Trinken aufhören konntest, ist das deine art von Rache? Wenn er dir schon nicht verzeihen konnte, und du ihn nicht mehr lebend wiedersehen konntest?! Schlägst du dann sein einziges Kind blau?“

Gretchen sah mit schrecken zu wie der Rote Kopf des Großvaters Anschwoll, die Augen geweitet wie bei einem Tier, ein drittes mal holte er aus.

„Hast du ihn auch geschlagen? Hatte er es gewagt dir offen zu sagen was für ein schrecklicher Mensch du bist?!“

Das Schattengretchen spie ihm all das entgegen was sich die echte nie Getraut hatte, doch oft gedacht. Ihr Herz setzte aus, der Großvater würde sie verstoßen, zur Adoption freigeben, wenn nicht schlimmeres. Doch dann hörte sie es. Das schniefen, das schrille keuchen. Mit offenem Mund sah sie wie ihr Großvater begann zu weinen, seine erhobene Faust zitterte.

„Hör auf...hör auf!“ Die Stimme des Großvaters hatte sich gewandelt. Aus der Wut wurde Verzweiflung, aus Zorn wurde Selbsthass. Tränen rannen ihm über das faltige, vom Alkohol gerötete Gesicht, und zum ersten mal sah Gretchen wie alt der Großvater doch schon war. Doch das Schattengretchen hörte nicht auf.

„Warum aufhören? Weil ich die Wahrheit sage? Weil es kein Mensch mit dir aushält? Weil deine gesamte Familie sich von dir abgewandt hat und nur jemand unter zwang bei dir leben kann? Ich verabscheue dich, du bist kein Großvater für mich!!! Ein Großvater soll gutes tun und nett sein, seine Enkel sollten ihn lieben können! Dich kann ich nicht lieben, du warst nie etwas für mich als ein alter, betrunkener Schläger! Ich hasse dich wie auch dein Sohn und mein Vater dich gehasst hat!“

Die Stimme war schrill geworden, anklagend und wütend wie die Posaunen des Jüngsten Gerichtes, der Großvater jaulte auf wie ein getroffenes Tier, ging wimmernd in die Knie und heulte hemmungslos leidend.

„Ich wollte...ich konnte...bitte...“

Doch das Schattengretchen zeigte kein Mitleid, Gnade konnte der Großvater nicht erwarten.

„Ich will deine Ausflüchte nicht hören, ich will dich nicht mal sehen! Trink dich ruhig zu Tode, aber zerstöre nicht auch noch mein Leben, wie du schon andere zerstören wolltest!“

Träge und müde, immer noch schluchzend wie ein kleines Kind erhob sich der Großvater, er war um jahrzehnte gealtert, müde und gebrochen. Während er nach Luft ringend den Korridor hinunterschlurfte schlug das Schattengretchen die Tür zu, wie eine letzte Antwort an den Großvater. Sofort wirbelte das echte Mädchen au sie zu, umarmte sie weinend, schluchzte ein heiseres Danke. Zwei Jahre lang hatte sie gelitten, und nun war jemand da der all das sagen konnte was sie immer gewollt hatte.

Doch das Schattengretchen nickte nur ernst. „Du weißt das war noch nicht alles“

Verwirrt musterte das Mädchen ihr Spiegelbild. „Wie meinst du das?“

Das andere Gretchen lächelte ihr aufmunternd zu. „Es gibt noch andere um die wir uns kümmern müssen.“

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Der Folgende Schultag begann vollkommen normal. Bis zur English Stunde. Gretchen hatte sich bis dahin unauffällig verhalten, nun ging sie kurz auf die Toilette. „Bist du da?“ nervös blickte sie sich um.

Eine Kabine öffnete sich und ihr Ebenbild zog sie rein. „Du weißt bescheid?“ „Ja...ich gehe um das Gebäude und schaue vom Fenster aus zu, bist du sicher das du-?“

Plötzlich wurde die Tür zur Toilette aufgetreten. Gretchen erkannte sofort die Stimmen von Renate und ihrer zwei Mitläuferinnen. Panisch wollte sie ihrem Zwilling zu verstehen geben leise zu sein doch diese machte keine Anstalten, und trat ohne scheu aus der Kabine.

Gretchen keuchte auf, drückte den Kopf an die Kabinentür, was würde nun geschehen?

„Ah Gretchen-Flittchen, hab dich schon gesucht!“

„Was willst du?“

Gretchen hörte ihre eigene Stimme ernst und streng, wie sehr würde sie das auch gerne können! Renate schien dennoch unbeeindruckt.

„Was wohl? Meine fünfzig Euro! Komm mir nicht blöd, ansonsten...“

„Ich hab das Geld, aber nicht hier“ „Verarschst du mich?“

Gretchen wäre am liebsten weggelaufen doch ihr Doppelgänger blieb ernst und furchtlos. „Ich habe es doch, aber ich kann es dir erst nach der Schule geben, okay? Nach dem Sport“

„Ich warne dich Schlampe, wenn du wegläufst solltest du es schnell machen, den ICH komme dir nach!“

Gretchen hörte wie jemand leicht gestoßen wurde, und Renatess Freundinnen boshaft lachten. Als sich die Stimmen entfernten traute sich das Mädchen die Kabinentür zu öffnen. Das Schattengretchen saß in einer Ecke. Überrascht hastete das Mädchen zu ihrem Ebenbild doch das lächelte nur knapp.

„Was...was sollen wir tun?“ Gretchen war verzweifelt doch ihre Doppelgängerin beruhigte sie lächelnd.

„Überlasse mir das alles...gleich ist English, schau ja gut zu“

Diese Stunde würde keiner in der Klasse je vergessen, Gretchen eingeschlossen. Alles begann normal. Frau Kronmüller begann einige Sätze anzuschreiben und am Ende der Stunde sollte man die Übersetzung schaffen.

Die Lehrerin ging nach und nach alle Schüler durch, manche mit Lob, manche mit Tadel. Bis der vorletzte Satz an der Reihe war. Es war eindeutig der schwerste, niemand in der gesamten Klasse hätte ihn lösen können, das wusste Frau Kronmüller. Also war klar wer sie vortragen sollte.

„Gretchen! übersetze bitte den folgenden Satz“

„Kann ich nicht“

Kühl und ohne zaudern hatte das Schattengretchen ihr Unwissen eingestanden. Das schnelle Antworten irritierte die Lehrerin doch es hielt sie nicht davon ab nachzusetzen.

„Warum? Hast du das mal wieder nicht kapiert?“

Doch die Schülerin die dort saß lies sich nicht im geringsten einschüchtern.

„Scheint so als hätten sie versagt!“

Die Klasse murmelte Hecktisch und überrascht, was war den heute mit Gretchen los? Frau Kronmüller bellte augenblicklich und wütend um ruhe, sie traute ihren Ohren nicht.

„WAS hast du da gesagt?“

Frau Kronmüller starrte das Mädchen vernichtend an, doch zu ihrem unwohl erwiderte Gretchen den Blick eisig und sogar eine spur schärfer.

„Ich sagte da haben sie wohl als Lehrerin versagt, haben sie keine eigenen Kinder?“

Die Klasse, auch die echte Gretchen draußen vor dem Fenster hielten den Atem an. Jeder wusste um das vorzeitige ableben von Frau Kronmüllers Sohn, doch niemand, nicht einmal der abgebrühteste Schüler hätte sich getraut auch nur anzudeuten das man es wusste. Frau Kronmüller zuckte wie unter einem Schlag in den Magen zusammen, ihre Hände ballten sich zu Fäusten.

„Was scheren dich meine Familienverhältnisse! Wenn du zu dumm bist...“

„Dumm ist nur ein Schüler der einen Lehrer hat der ihn nicht richtig unterrichtet!“

Das zweite Gretchen war hochgefahren das alle Schüler staunend starrten, selbst Frau Kronmüller zuckte eine Sekunde zurück.

„Sie haben mit KEINEM Wort die ersten drei Vokabeln dieses Satzes jemals erwähnt, wie kann ich also etwas wissen wenn sie es nicht mal im Unterricht erwähnen? Sind SIE etwa Dumm? Oder wollen sie uns nur Quälen?!“

„Wie kannst du es WAGEN!“ kreischte Frau Kronmüller fassungslos mit roten Gesicht. Ihre Haare waren wild zerzaust, die Brille rutschte wild auf der spitzen Nase umher, ihr Atem ging hörbar keuchend. Mit einem Schritt war sie bei Gretchen, holte aus...

„Wenn sie mich anrühren gehe ich zum Direktor! Jeder Schüler wird meine Aussage bestätigen, den NIEMAND mag sie, im Gegenteil wir fürchten uns nur vor ihrer willkürlichen Bosheit! Deswegen sind sie auch keine Lehrerin, eine Lehrerin soll Schüler mögen und die Schüler sollen ihren Lehrer Respektieren, und nicht fürchten! Also schlagen sie zu wenn sie auch doch den letzten Funken ihrer Pädagogik vergeuden wollen!“

Tosendes Gejohle unter den Schülern, DAS war genau das was alle dieser Frau sagen wollten, und sich dennoch nie getraut hatten. Frau Kronmüller war kreidebleich geworden, ihre Schultern bebten vor Fassungslosigkeit. Was war passiert?!

„RUHE IM KLASSENZIMMER!“ kreischte sie schrill, doch niemand hörte mehr auf sie. „Gretchen! Gretchen!“ propagierte die gesamte Klasse, und dem echten Gretchen vor dem Fenster liefen Tränen über die Wangen, es war wie ein Traum. Frau Kronmüller versuchte es ein zweites mal, wollte zurück zur Tafel, stolperte dabei aber aus Hektik über ihre eigenen Schuhe und strauchelte vor dem Pult zu Boden. Abermals johlte die Schüler, die Frau die sie immer fürchteten hatte ihre Macht eingebüßt.

Fassungslos begann Frau Kronmüller sich umzusehen, blickte auf die auslachenden Gesichter die sie verhöhnten, nie wieder würde sie den Kindern unwohl einjagen. Erschrocken und verwirrt schaute sie nur zu dem Gretchen an ihrem Platz das nun Sie vernichtend ansah. Unter Applaus rannte die Lehrerin aus dem Klassenraum, sie würde niemals wieder eine Klasse unterrichten.

Das echte Gretchen hatte etwas Mitleid mit Frau Kronmüller, sagte sich aber das kein Verlust das quälen anderer rechtfertigte. Mit Genugtuung beobachtete sie wie die Schüler ihre Doppelgängerin gratulierten, sie lobten und ihr Anerkennung zollten. Selbst Benjamin legte die Hand auf Gretchens Ebenbild und sagte ihr etwas was das echte Gretchen im Lärm nicht Verstand. Dennoch wurde ihr warm ums Herz, würde sich nun alles zum besseren wenden?

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Geduldig wartete Gretchen hinter den Sporthallen auf ihre Doppelgängerin. Sie hatte den restlichen Stundenplan hier verbracht, in Absprache das ihr Zwilling alles andere Übernehmen würde. Ihr wurde schon wieder Flau wenn sie an Renate dachte, würde ihr Zwilling auch sie in Grund und Boden reden? Gretchen hoffte es, war sich aber unsicher.

„Huhu“

Ihr Ebenbild kam gerade aus der Sporthalle, die Sportsachen noch an, lächelnd.

„Danke dir nochmals für die Sache mir Frau Kronmüller! Hatte sonst alles geklappt?“

„Sicher, aber wir haben nicht mehr lange Zeit! Ein Schatten und sein Ebenbild können nicht auf dauer in einer Welt leben, das sagte ich dir schon!“

„Du hast soviel für mich getan...“

„Ach lass das, ich habe eine Überraschung für dich“

„Was meinst du?“

„Benjamin will dich treffen...bei uns...bei dir zuhause, heute Nachmittag“

„WAS?“ Gretchen wurde einen Moment schwindelig „Aber wie-?“

„Etwas Selbstvertrauen hilft viel, keine Sorge das klappt schon, du kannst noch etwas bummeln gehen“

„Oh das ist fantastisch!“ jauchzte Gretchen seid Jahren wieder wirklich glücklich! Benjamin würde sie Besuchen, sie müsste noch Aufräumen und...

„Aber ähm was ist mit Renate?“ Die hatte sie beinahe vergessen. Aber ihre Doppelgängerin lächelte abermals. „Überlasse das mir, du weißt doch das ich so etwas kann.“ Natürlich. Gretchen nickte glücklich. Ihr Schatten würde auch diese Herausforderung bewältigen. Zufrieden verabschiedeten sie sich. Gretchen trottete zufrieden in die Stadt während die andere mit einem ernsten Gesicht zurückblieb...

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„Ich wusste das Miststück kommt nicht!“ Renate knurrte, ballte die Faust. Morgen würde sie ihr Messer nehmen und dann. „He schaut mal da!“ sagte eine der anderen, deutete auf den Schuleingang. Gretchen, noch in Sportklamotten winkte sie zu sich. „Man endlich, dafür wird die Kuh zinsen zahlen“ erklärte Renate grinsend, das Klappmesser griffbereit. Die drei Mädchen traten in den Schulkorridor. Es war die letzte stunde gewesen, noch kaum jemand hielt sich im Gebäude auf, es wurde Nachmittag.

„Wo ist sie denn?!“ Da plötzlich ein wink von der oberen Etage. „Hier bin ich“ winkte Gretchen grinsend. „Komm endlich runter verdammte Quarke!“ brüllte Renate ärgerlich, doch da war das Mädchen schon wieder aus dem Blickfeld. Entschlossen zog die Schlägerin ihr Klappmesser, das würde Gretchen büßen. Mit ihren zwei Komplizinnen stampfte sie die Treppe hoch. Als sie am Absatz stand durchfuhr sie ein grausamer Schlag auf die Hand, das Klappmesser flog schliddernd über den Boden, Renate schrie überrascht auf, ebenso die zwei Anderen. Gretchen stand am Absatz, immer noch in Sportklamotten. Und sie hatte einen Feldhockeyschläger. „Du irre Schlampe, ich mach dich kalt!“ brüllte Renate wütend, wollte sich auf ihre Gegnerin stürzen doch da hob Gretchen schon den Massivholzschläger.

„Oh nein!“

Der Schläger wuchtete sich mit drall gegen Renates Schienbein, man hörte ein grässliches Knirschen und Renate ging brüllend zu Boden, hielt sich kreischend ihr Bein. „Na du große Schlägerin? Bist wohl baff wenn jemand mal in deiner Sprache antwortet!“ Gretchens Stimme klang kalt und bitter, ihr Blick eine Maske aus Boshaftigkeit. Die anderen Zwei Mädchen waren immer noch Fassungslos versteinert gewesen, doch als Gretchen den Schläger warnend anhob hastete die beiden so schnell es ging die Treppen hinunter, ein Wunder das sie heil unten ankamen.

„Du hast mir das Bein gebrochen, du hast mein Bein gebrochen du krankes Stück!“ keifte Renate immer noch schrill, betrachtete ihr Hosenbein das schräg abstand und sich Langsam dunkel Färbte. Dann sah sie Gretchen über sich. Mit Wucht prallte der Hockeyschläger auf ihren Fuß, Renate verdrehte brüllend die Augen, ihre Blase löste sich und sie merket wie Blut und Urin sich vermischten, sie kämpfte mit der Ohnmacht.

„EIN gebrochenes Bein?“ Renate bekam unter dem Schleier aus Schmerz mit wie Gretchen sie abfällig, düster wie ein Henker musterte. „EIN Bein soll das alle ausgleichen was du mir angetan hast?“ Renate wurde übel, ihr Bein und ihr Fuß pochten heiß und panisch zog sie sich über den Boden, nur weg von dieser Irren!

„Du glaubst nicht ernsthaft das ein Bisschen Blut den Schrecken und die Angst wiedergutmachen die du mir und allen anderen Angetan hast oder? Oh nein Renate, das Leben war viel zu gut zu dir“ Gretchens Gesicht wurde zu einer bösen Grimasse „Heute kommt die Rechnung“.

Renate hastete über den Flurboden, schrie panisch um Hilfe, doch niemand kam. Sie sah die Treppe zum Dach, drehte den Kopf und sah Gretchen mit dem Schläger langsam, fast gemächlich auf sie zukommen, sie würde sie umbringen! Mit grässlichem Schmerz und Überwindung krallte sich Renate Panisch an das Geländer, zog brüllend und wimmernd ihr krummes, lebloses Bein mit sich das bei jeder Bewegung schmerzte wie die Hölle, sie musste hoch, sich verstecken!

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Während Renate um ihr überleben Kämpfte war die echte Gretchen ahnungslos in den Einkaufspassagen unterwegs. Sie dachte mit mulmigen Gefühl an den Abend. Benjamin würde kommen! SIE besuchen kommen! Und das alles hatte sie ihrem Zwilling zu verdanken, wie schön doch alles sein konnte.

Plötzlich packte sie eine Hand grob.

„Endlich habe ich dich gefunden!“ Gretchen wurde überrascht herumgerissen und da stand die rundliche Ladenbesitzerin vor ihr. Doch diesmal war sie nicht freundlich und fröhlich, im Gegenteil aus ihrem Gesicht sprach die Angst,

„Was, was ist denn? Ich habe nicht getan!“

„Du lügst Mädchen, du hast etwas mit dem Spiegel Angestellt, habe ich recht?“

Angst machte sich bei der Schülerin breit, was wollte die Frau von ihr? Der Spiegel war das beste was ihr je passiert war, und sie wollte ihr das nicht gönnen? „Gib es zu, dein Schatten kam dich besuchen oder?! KIND ANTWORTE!“ der Griff der Frau wurde härter, grober, einige Passanten musterten die beiden Misstrauisch. Gretchen wurde panisch. „lassen sie mich los, ich weiß von nichts!“

Doch die Frau schien in Panik zu sein, ihr Gesicht war gerötet. „Weißt du den nicht das ein Schatten und sein Mensch nicht auf Dauer in einer Welt sein können?!“

Mit einem kräftigen Ruck riss sich Gretchen frei, nur weg von dieser Frau, nur fort!

„Warte Mädchen, so warte doch!“ brüllte die Frau hilflos hinterher. „Du weißt ja nicht was du getan hast!“

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Renate fiel durch die Tür auf das Dachgeschoss, schlug brüllend auf. Sie spürte deutlich wie der Knochen in ihrem Bein spürbar wackelte. Ihr Hosenbein war inzwischen Nass von ihrem Blut und ihr Kopf drehte sich. Nicht einschlafen mahnte sich das Mädchen panisch, robbte unter schmerzen und Pein Richtung Dachsims. Sie würde sich am Geländer verstecken, wenn sie nur...

Ihr Herz setzte kurz aus als sich langsam die Tür hinter ihr öffnete. Gretchen, ihre Grausame Nemesis war hinter ihr, den Schläger in den Händen wippend. „Wolltest du mich nicht verfolgen Renate? Hast du das nicht heute Morgen gedroht? Komm schon, was ist den nun? Fühlt sich nicht gut an der gejagte zu sein oder?“

Renate japste auf, das musste alles ein Schrecklicher Traum sein.

„HILFEEE HILFEEE POLIZEIII“ brüllte sie krächzend, schluchzend, zurückweichend. Die Schattengretchen schüttelte kalt lächelnd den Kopf, ihr würde niemand zur Hilfe kommen. Panisch rückte Renate auf den Dachsims, wenn sie sich am Rande festklammern... Doch ihr lebloses Bein zog sie urplötzlich herunter, sie rutschte ab, bekam nur noch kreischend die Dachkante zu fassen, baumelte in der Luft.
Sie machte den Fehler runterzusehen und ihr wurde abermals schlecht. Es ging gute sieben Meter hinab in den Hinterhof der Schule, das würde sie nicht überleben. Gretchen plötzlich über ihr.

„Hier, nimm schon!“ Verwirrt sah Renate den Hockeyschläger vor ihrer Nase, was war los?

„Greif schon!“ Mühsam, mit letzter kraft krallte sich Renate an die Spitze des Dicken Schlägers, wäre fast abgerutscht. Gretchen über ihr ächzte bei dem Gewicht, konnte sie aber mit dem Fuß gegen den Sims stemmen und sie langsam Hochzerren. Renate konnte nicht mehr aufhören zu wimmern, Blut tropfte von ihren Bein hinab in die Tiefe.

„Wirst du je wieder jemanden terrorisieren?“ Gretchens Ton war streng und warnend. Renate schüttelte in Todesangst den Kopf. Sie würde Gretchen umbringen, niederstechen wenn alles vorbei war, doch nun wollte sie nur noch weg von hier.

Fassungslos sah sie in Gretchens Gesicht.

Sie lächelte milde.

Überrascht bemerkte Renate noch wie sie den Schläger in der Hand hielt, und sich langsam ihre Welt begann zu kippen. Sie konnte nicht einmal mehr schreien, da war sie auch schon sieben Meter tief gefallen und mit Wucht auf den kalten Steinfliesen aufgeschlagen. Gretchens Ebenbild blickte nochmals über den Dachsims hinunter. Renate lag ausgestreckt auf den Boden, den Blick gebrochen ins nichts. Unter ihrem Kopf breitete sich langsam eine dunkle Lache aus.

Als Renates Freundinnen jemanden aus dem Schulgebäude kommen sahen dachten sie erst es sei ihre Anführerin. Doch mit schreck erkannten sie Gretchen, und hörten in der ferne Feuerwehrsirenen. Es wurde beiden Eiskalt ums Herz als Gretchen ihnen kalt zulächelte und vielsagend den Finger an ihre Lippen legte. Nicht einmal eine Woche später wechselten beide die Schule, doch es dauerte mehrere Jahre bis sie wieder halbwegs ruhig schlafen konnten.


„Es lief alles wie am Schnürchen“ versicherte Gretchens Zwilling dem Original. Gretchen seufzte glücklich, nahm ihr Ebenbild an den Händen.

„Ich muss mich noch mal bei dir Bedanken, ich kann...“

Gretchen seufzte, sie hatte Kopfweh und sie fühlte sich Schwach. Die Aufregung dieses Tages hatten sie wohl mehr mitgenommen als erwartet. Die Schattengretchen nickte nur milde. „Benjamin kommt gleich, ruhe dich nur aus, ich wärme ihn etwas für dich vor.“

Schmunzelnd legte sich Gretchen auf ihr Bett, döste erschöpft...

Benjamin kam pünktlich, und ein Mädchen das so aussah wie Gretchen öffnete die Tür.

„Hallo du“

„Hi“ die Stimme von Gretchen wurde weicher, anregender. Benjamin musste unwillkürlich schlucken, war das dieses Mauerblümchen von gestern? „Hab uns zwei Bier mitgebracht, stört das?“

„Gar nicht Benny...komm ins Wohnzimmer, mein Großvater ist auf seinem Zimmer“

Inzwischen war Gretchen wieder aufgewacht, sie fühlte sich nicht gut. Benommen stand sie auf, sah durch den Türspalt ihres Zimmers. Benjamin war da! Nervös beobachtete sie wie ihr Zwilling ihn ins Wohnzimmer führte. Stöhnend griff sie sich an den Kopf, und da...

Sah sie es...

Sie sah durch ihre Hand.

Verwirrt sah sie ins Fenster, sie war nur noch Schemenhaft zu erkennen!

Verwirrt sah sie ihre Doppelgängerin mit Benjamin Zungenküsse Austauschen, und da begriff sie. Ein Schatten und sein Besitzer konnten nicht lange in einer Welt existieren! Doch wenn der Schatten realer und echter wurde als man selbst...wurde man dann nicht selbst zu einem Schatten?!?

Mit Panik wollte Gretchen die Tür öffnen, Benjamin anschreien das doch SIE die echte war, und nicht ihr Ebenbild. Doch sie konnte nicht mal mehr den Türgriff greifen, sie verlor ihre Konturen! Und dann sah sie Gretchen, das nun echte Gretchen mit Benjamin küsse austauschen. Ihr ehemaliger Schatten Blickte während dieses Kusses direkt zu ihr.


Und lächelte wissend.

„Neeeeiiiiiiiiiiiiiiiiiiin“ brüllte Gretchen panisch, doch das war kaum noch zu hören.

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„Was warn das?“ Benjamin hatte den Kuss unterbrochen, sah sich irritiert nach hinten um? „Ist dein Alter da?“ Gretchen tat unschuldig. „Lass uns doch nachsehen.“

Benjamin öffnete die Tür zu Gretchens Zimmer, sah sich um und...

Sah nichts.

„Dachte ich hätte was gehört“ murmelte er irritiert. Doch dann küsste ihn das Mädchen das nun Gretchen war wieder innig.

Sie lächelte breit. „Du hörst nur Gespenster“ behauptete sie grinsend, wissend und nun real.

 

Ende

 

 

 

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