Der Köder

 

Deutschland, Oktober 1940.

 

Es war der letzte Bahnhof nahe der Grenze, keine Menschenseele war mehr hier, der letzte Zug war vor mehreren Stunden abgefahren. Der Schnee hatte eingesetzt und langsam aber sicher wurde der Boden gleichmäßig von einem weißen Schleier bedeckt.

 

Inmitten dieser vermeintlichen Leere standen, wie zum Trotz der Uhrzeit und des Wetters, drei Gestalten auf dem Bahnsteig. Die Männer waren doch recht Unterschiedlich, trotz ihres gemeinsamen Schicksals: Während der Erste eher schmächtig und klein war, so war der Zweite von normaler Statur, während der Dritte alle Beide überragte und recht athletisch wirkte.

 

Wo der Erste hellblonde Strähnen hatte und jugendlich wirkte, so waren die Züge des Zweiten ernster, seine Haare kurz und aschbraun, während der Dritte eher ein breites Gesicht hatte und kurze, schwarze Borsten auf dem Haupt besass.

 

Immerhin war das Trio ähnlich gekleidet. Alle trugen sie unauffällige braune, abgewetzte Mäntel und breite Mützen, so als wollten sie so wenig wie möglich ihre Gesichter zeigen. Alle hatten nur einfaches Schuhwerk, aber immerhin Handschuhe die sie sich mehrfach vor ihrem Mund warm hauchten, man sah deutlich ihren Atem.

 

Wird spät” erklärte der Jüngste fröstelnd, umklammerte sich demonstrativ und schnaufte die Luft aus seinen Zähnen. Er schien nervös zu sein, seine ganze Haltung war ruhelos.

 

Vielleicht haben wir ihn verpasst?” der Größte der Dreien hatte, typisch für Leute seiner Größe, etwas träges, dennoch eine Aura der Kampfbereitschaft.

 

Der Mittlere hingegen war scheinbar die Ruhe in Person, verharrte Stumm zwischen seinen Mitstreitern und vermittelte dabei den Eindruck solange auszuharren wie es notwendig war, unabhängig von jeglicher Zeit. “Der Kontakt wird schon auftauchen” erklärte er leise während er Abwesend durch die Schneewehen starrte.

 

Plötzlich zeichnete sich eine Gestalt ab. Die drei Männer blickten überrascht auf eine junge Frau. Wie sie selbst trug sie einen dunklen, unauffälligen Mantel, ihre rotbraunen Locken zeichneten sich unter der roten Wollmütze ab, ernste, braune Augen betrachteten und beurteilten die Männer.

 

Der Jüngste durchbrach das Schweigen. “Sind sie...?” er ließ den Rest des Satzes hilflos und zappelnd in der Luft verharren, und die Angesprochene machte sich keine Mühe ihn aufzugreifen. Der Mittlere trat einen Schritt näher durch den Schnee. “Der Buchbinder schickt uns” erklärte er “Er sagte sie könnten uns helfen Fräulein...”

 

Sie musterte ihn abschätzend, wie ein seltenes Tier. “Ich bin Ilsa”.

 

Der kleine Blonde ergriff wieder das Wort. “Ich bin Benjamin, Benjamin Kro...” Doch da unterbrach sie ihn mit einer Geste. “Keine Nachnamen” orderte sie. Benjamin nickte. Der Größte der Drei machte endlich den Mund auf. “David” kam es ihm über die Lippen.

 

Jakob” erklärte der Mittlere im Bunde schließlich. “Also können sie uns helfen?”

 

Ilsa sah sich auf dem menschenleeren Bahnhof um. Sie waren alleine, doch das schien sie keineswegs zu beruhigen. Sie nickte nur so knapp das man es gerade noch deuten konnte. “Kommt”.

 

Benjamin sah Jakob nervös an. Dieser nickte lediglich, sie mussten ihr folgen. Keiner der Männer hatte viel Gepäck, also schulterten sie ihre alten, durchweichten Rucksäcke und folgten ihr. Die Straßen waren verlassen, das Wetter wurde ungemütlicher, Jakob rieb sich über die verschneiten Augenbrauen, versuchte zu ergründen wohin sie gingen. Mühsam schloss er zu ihrer Führerin auf.

 

Wie weit ist es denn genau?”

 

Ilsa blickte ihn nicht an. “Nicht weit, eine halbe Stunde durch das Wäldchen.” Dann drehte sie den Kopf nach hinten zu den anderen Beiden. “Seid ihr Brüder?” Wenn es für sie einen Begriff für vollkommenen Mangel an Ähnlichkeit brauchte musste sie sich nur die Drei ansehen, aber es gab verrückteres auf der Welt als ungleiche Geschwister.

 

Jakob verneinte “Nur im Geiste”. Die junge Frau nickte. In diesen Tagen waren Flüchtlinge wohl enger verbunden als es Blutsbande je möglich machten konnte. “Kamt ihr mit dem Zug?”

 

Benjamin brachte sich eifrig ins Gespräch ein. “Nein, wir sind mit dem Auto eines Bekannten bis an die Autobahn, dann haben wir uns zu Fuß bis hierher durchgeschlagen.” Die Frau fragte natürlich ob sie keine Papiere fälschen konnten, doch der blonde Mann schüttelte den Kopf. “Wir hatten außerdem Angst vor dem Bluthund...” Auf einmal drehte Jakob den Kopf zu seinem Kameraden herum, sein Gesicht zu einer grimmigen Fratze verzogen.

 

Benjamin!” Der Angesprochene zuckte zusammen. Ilsa runzelte die Stirn. “Was für ein Bluthund?” Jakob seufzte nur, während der Gescholtene sich zögerlich erklärte. “Es geht um Axel Sturmwald, einem Hauptmann der SS.” Die junge Frau erwiderte sie hätte den Namen schon einmal gehört, worauf er fortfuhr. “Er hat viele berüchtigte Spitznamen bekommen: Judenjäger, Henker, aber der Bekannteste ist immer noch Bluthund, weil er sich gnadenlos an die Spur seiner Opfer...”

 

Jakob ballte die Faust zusammen. “Das reicht jetzt” unterbrach er den jungen Mann. Ihrer Führerin fragte irritiert warum es ihm so viel ausmachte wenn sein Leidensgenosse über diesen Mann sprach. Ob er ihn etwa kannte?

 

Ich habe von ihm gehört” gestand Jakob ein. “Er soll von Hitler selbst ermächtigt worden sein jede noch so sadistische Methode und jede juristische Grenze überschreiten zu dürfen.”

 

Ilsa schauderte, das klang wirklich grausam gestand sie ein.

 

Der Flüchtling bekannte sich “Ich glaube wenn es einen Mann gibt dem man nicht in die Hände fallen sollte dann ist das Sturmwald.”

 

Schweigen legte sich über die Gruppe, als hätte die Erwähnung dieses Namens alleine sie schon gelähmt, und ihre Herzen vergiftet. Sie kamen ins Waldgebiet, und langsam wurde der Weg beschwerlich. Jeglicher Pfad, sofern es ihn je gegeben hat, war längst von der Natur zurückerobert worden, die vier Gestalten stapften knietief durch den Schnee, drängten sich unter Ästen und Dickicht weiter hinein in das Gebiet.

 

Und das Versteck? Ist das eine Hütte?” das war Davids erster Satz den er an die Frau richtete, der Hüne fixierte ihren Rücken.

 

Eine Höhle, dort kann man euch und die Anderen dann in zwei drei Tagen weiterschleusen.” Benjamin war überrascht. “Eine Höhle? Werden wir da nicht erfrieren bei dieser Kälte?” Doch Ilsa verneinte, man hätte einen großen Vorrat an Decken und Petroleumlampen, und im schlimmsten Fall müsste man eben zusammenrücken.

 

Wie viele sind denn dort? Das klingt ja fast nach einem Stützpunkt.”

 

Die Frau schmunzelte. “Die Höhle ist sehr groß aber so abgelegen das die Nazis nie auf sie stoßen, ich denke wir sind der größte Anlaufpunkt für Leute auf der Flucht.” In ihrer Stimme schwang ein gewisser Stolz mit. Jakob war weniger euphorisch. “Ich möchte mit niemanden Ärger.” Doch Ilsa beruhigte ihn, niemand dort war feindlich gesinnt, es waren hauptsächlich Frauen und Kinder die niemanden ausgrenzten.

 

Nach etwa einer halben Stunde Fußmarsch sahen die Männer das Ziel.

 

Oh” entwich es Benjamin. Das Gebilde ähnelte einem riesigem Torbogen, die verschneite Höhle stand wie aus der Erde gewachsen mitten im Dickicht, keine Felsformationen oder sonstigen Steinansammlungen waren in der Nähe.

 

Als hätte die Zeit sie übrig gelassen” murmelte der junge, blonde Mann.

 

Jakob und David sahen ihren Kameraden stirnrunzelnd an, doch ihre Führerin lächelte bei den Worten. “Das denke ich auch manchmal, kommen sie ich stelle sie den Anderen vor.” Ilsa ging auf das Versteck zu doch alle drei Männer blieben stehen.

 

Ich denke sie haben uns genug geholfen Fräulein” erklärte Jakob knapp. Als die junge Frau sich zu ihm umdrehte hatte er eine Pistole in der Hand. Sie blinzelte kurz, lächelte schief und fragte was das sollte. Der Mann der sich selbst Jakob genannte hatte zog seine Mütze ab, seine Züge wurden härter. “Das soll heißen das der so genante Bluthund Witterung aufgenommen hat” ein Lächeln umspielte seinen Mund. “Ich sagte ja das man einen Mann wie mir nicht in die Hände fallen sollte.”

 

Ilsa war sprachlos. Der angebliche Benjamin trat unsicher einen Schritt vor. “Wenn sie ihnen sagen das sie sich ergeben wird es keine Toten geben” versprach er der Betrogenen.

 

Jakob, alias Axel Sturmwald spannte den Hahn seiner Waffe. “Das sehe ich gänzlich anders.”

 

Der Schuss riss Ilsa ein Loch in den Brustkorb und warf sie rücklings in den Schnee. Ihre Augen zuckten noch einige Sekunden, dann atmete sie sanft aus und starb.

 

HAUPTMANN!” der blonde Hochstapler war sichtlich schockiert, während sein Vorgesetzter keine Miene verzog, seine Pistole rauchte noch vom Schuss. “Sie war doch keine Gefahr! Ich dachte wir sollten die Flüchtlinge festsetzen!”

 

Der Bluthund machte ein Gesicht als sein ihm der Gedanke allein schon absurd. “Obergefreiter Erzer” nun sprach er den blonden mit echtem Namen an. “Ich bin der Leiter dieser Operation, was in den Vorgaben steht tut nichts zur Sache.”

 

Doch der junge Soldat war anderer Meinung. Er sei nicht hier um wehrlose Menschen zu töten erklärte er immer noch aufgewühlt. Sturmwald wurde langsam wütend. “Wir töten keine Menschen Obergefreiter, wir töten Juden” er spuckte das letzte Wort regelrecht aus. “Zigeuner, Homosexuelle, Entartete, Untermenschen, das ist so als würden sie einen kranken Hund erschießen.”

 

Der blonde Mann zog nun seine Dienstwaffe und zielte auf den Hauptmann. “Sie sind ja Krank! Krieg ist Krieg aber hier geht es um wehrlose Frauen und Kinder! Sie sollen ins Ausland deportiert werden!”

 

Sturmwald lachte auf. “Obergefreiter wenn sie die Aussagen der Pressestelle glauben dann ist das schön für sie” seine Stimme wurde gebieterischer. “Und nun senken sie die Waffe, oder sie bereuen es.”

 

Hilflos schaute der Blonde zum dritten im Bunde. “Frick, das kann nicht richtig sein!” Der falsche David schüttelte teilnahmslos den Kopf. “Du hast den Hauptmann gehört Erzer.” Der Hüne hatte sichtlich weniger Skrupel.

 

Eine Weile standen alle Drei wie bei einer seltsamen Theateraufführung mitten im Schnee, verharrten in den ihnen zugewiesenen, starren Rollen. Dann endlich, senkte der Obergefreite seine Pistole. “Ich...” er schüttelte den Kopf. “Ich werde niemanden töten” stellte er klar.

 

Sein Vorgesetzter nickte. “Das respektiere ich Erzer” er hob seine Waffe etwas an. Der blonde Mann hörte zwar den Knall, merkte aber erst was passiert war als er das rauchende Loch in seinem Mantel sah. Er wollte etwas sagen doch der Schock war zu groß, seine Knie gaben nach und er stürzte hilflos zur Seite in den Schnee.

 

Sehen sie es so” erklärte Sturmwald emotionslos. “Sie sind tapfer im Kampf gegen den Feind gefallen” er schmunzelte. “Vielleicht lasse ich sie sogar posthum für einen Orden vorschlagen.” Dann nickte er dem Riesen zu. “Frick, holen sie ihr Maschinengewehr raus, wir räuchern diese Brut jetzt aus.”

 

Die beiden Männer betraten die Höhle. Der Bluthund war beeindruckt: Die Ausmaße wirkten von außen kleiner, in Wahrheit war das Versteck der Flüchtlinge sehr viel weiträumiger. “Sehe niemanden” zischte sein Handlanger, seine Waffe kampfbereit erhoben. Der Hauptmann machte eine stumme Geste voran zu gehen, wahrscheinlich war der Komplex tiefer als sie dachten, und das Lager war weiter im Inneren.

 

Leise schritten sie weiter, während Sturmwald die Höhle genauer betrachtete. Die Wände waren dunkel und feucht, der Boden schwarz und uneben, seltsame Kristalle spendeten mattes Licht. Eine sehr absonderliches Gebilde dachte er bei sich. Sobald seine Beute erlegt war sollte er den Geologen der Partei Bescheid geben, das könnte sie sicher interessieren.

 

Eine Weile gingen sie tiefer und tiefer in das Gebilde, man hörte ein Brummen, und Sturmwalds Untergebener wurde sichtlich nervös. “Wo sind diese Juden denn?” fragte der Riese. Der Gang schien kein Ende zu nehmen, und sie Höhlendecke wirkte auf ihm Fremdartig.

 

Ruhe Frick!” knurrte der Hauptmann bemüht leise. “Verraten sie uns nicht!” doch auch er wurde langsam unsicher. Die Höhle sah von Außen viel kürzer aus, und dann der Geruch. Eine Mischung aus Abfällen, Gasen und Verdorbenem steig ihm in die Nase, hatten diese Leute nun gänzlich ihre Menschlichkeit eingebüßt?

 

Auf einmal schwoll das Brummen an. Der riesige Frick blickte sich nun panisch um. “Das ist doch nicht normal!” Erbost packte ihn sein Vorgesetzter am Kragen. “Reißen sie sich am Riemen Mann!”

 

Dann geschah es.

 

Sturmwald bekam nicht wirklich mit was passierte, aber etwas sprang lautlos vom Boden, packte den riesigen Untergebenen an den Beinen und riss ihn, als wäre er ein Spielzeug, in die Tiefe der Höhle. Der Hüne konnte nur noch einmal verwirrt aufschreien, dann hatte ihn die Dunkelheit verschluckt.

 

Allmächtiger!” ächzte der Bluthund. Seine Hand hatte sich gerade noch von Frick gelöst bevor dieser weggerissen wurde. Er zitterte, richtete panisch seine Pistole in die Finsterniss. Etwas stimmte hier nicht. Bewegten sich Schatten an den Wänden? Er musste weg. Seine Truppen herbeorden, sollten die sich darum kümmern. Er wirbelte herum und rannte zurück zum Eingang.

 

Inzwischen lag der Obergefreite Erzer in den letzten Atemzügen seines Lebens. Er hörte Geräusche in der Höhle, drehte mühsam den Kopf. Sein Blick fiel dabei auf Ilsa die in einer Blutlache nicht weit entfernt lag. Bedauern schlich sich in seine trägen Gedanken.

 

Auf einmal aber stand Ilsa auf, als wäre nichts geschehen. “Mhhh” sie streckte sich als hätte sie lange ausgeschlafen, während der Sterbende die Augen aufriss.

 

Tut mir leid” wandte sie sich an ihn, beugte sich scheinbar unverletzt über ihn. “Aber...” der Sterbende bekam es kaum über die Lippen, weil daraus schon Blut floss. Die Frau die sich Ilsa nannte lächelte. “Auch ich war nicht ehrlich zu euch, das alles war nur ein Köder für Katal”

 

Der junge Mann blinzelte schwach “Kat...” er hustete, während ihm die Frau die blonden Strähnen wegschob. “Ja Katal, er braucht alle paar hundert Jahre ein Opfer, dafür schenkt er mir das Leben” erklärte sie. “Es ist eigentlich recht einfach einen Köder zu legen: Vor 500 Jahren waren es angebliche Hexen, vor 800 waren es die Feinde der Tempelritter... es gibt immer jemanden für den Jäger bereit sind hier herzukommen.

 

Urplötzlich erschien Hauptmann Sturmwald im Eingang. “Aber was...” er sah verblüfft die vermeintlich Tote neben Erzer knien. Er hob die Waffe. “Was ist in der Höhle?!” seine Stimme klang schrill und wirr.

 

Ilsa musterte ihn kalt. “Höhle? Du Narr hast es immer noch nicht begriffen.”

 

Dann sah Erzer es. Er war zwar schon in den letzten Atemzügen doch er konnte sie deutlich an den Außenwänden der Höhle erkennen.

 

Zwei gigantische Augen.

 

Axel Sturmwald, Hitlers Bluthund schrie noch einmal auf als die Höhle sich wie ein gigantisches, steinernes Maul um ihn schloss. In seinen letzten Sekunden erkannte Obergefreiter Erzer das riesige Wesen vor sich, steinern und scheinbar zeitlos. Ilsa küsste ihn zum Abschied auf die Lippen. “Katal wird für weitere 400 Jahre satt sein, es tut mir leid das ich dir nicht helfen konnte.” Die Frau erhob sich als der Soldat aus dieser Welt schied. Sie würde ihm nicht Katal geben. Er benötigte nur wenig Nahrung und sie wollte das der Bursche anständig beerdigt wurde. Sie würde in ein paar hundert Jahren sicher wieder andere für ihren Meister finden.

 

Man brauchte nur den passenden Köder.

 

ENDE

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Lucrea (Samstag, 20 Oktober 2018 17:24)

    Ok, also das Ende hat mich dann doch überrascht. ��‍♀️